Hier gibt es in regelmäßigen Abständen kurze anonymisierte persönliche Geschichten und Lebensläufe junger Wissenschafter:innen. Wir wollen damit die vielfältigen realen Schwierigkeiten und Probleme des akademischen Prekariats sichtbar machen und den leeren Worthülsen der Politik und Uni-Verwaltung („Keine Innovation ohne Fluktuation“ etc.) reale Geschichten entgegenhalten. Wenn auch Du eine Geschichte beisteuern willst, melde dich bei uns!
- Wir sind Arthur
Name und Alter: Arthur, frische 54
Persönliche Situation: verheiratet, 2 Stiefsöhne
Werdegang: mehrere Diplomstudien und ein Masterstudium
Anstellungen: Werkverträge, Freier Dienstnehmer, Lehraufträge, Senior Lecturer, Lehrkraft für besondere Aufgaben, wissenschaftlicher Mitarbeiter, akademischer Mitarbeiter …
Akademische Laufbahn: Arthur startet verspätet seine akademische Laufbahn und ist mit großer Leidenschaft im Bereich der Lehre an mehreren österreichischen Universitäten und Hochschulen tätig. Seine inhaltlichen Forschungsschwerpunkte liegen dabei im Bereich der Inter- und Transdisziplinarität im Feld der Gesellschaftswissenschaften. Das gefällt kaum jemanden im akademischen Betrieb, weil es den Blick über die Fachgrenzen erfordert. Das macht es auch schwierig, eine:n Dissertationsbetreuer:in zu finden. Aber das ist ein anderes spannendes Kapitel! Nach acht Jahren intensiver Lehre wird erstmals die Kette schlagend. Er geht nach Deutschland und erlebt dort die Auswüchse des deutschen Wissenschaftszeitgesetzes. Befristete Tätigkeiten sind auch dort an der Tagesordnung. Deutsche Universitäten nutzen dabei die Möglichkeit der befristeten Anstellungen als Lehrersatz. Arthur lernt nach mehrmaligem Universitätswechsel in Deutschland das Phänomen von Hochdeputatsstellen kennen. Vor seiner Rückkehr nach Österreich löst er den Vertrag über eine 18 SWS-Lehrverpflichtung wieder auf. Der Wiedereinstieg in Österreich gelingt zunächst. Dann bewirbt er sich erfolgreich auf eine Karenzvertretung, also als Ersatzkraft, für maximal 14 Monate und erfährt durch die Personalabteilung, dass diese aufgrund der neuen Kette nicht angetreten werden kann. Derzeit versucht er zu klären, inwiefern Karenzvertretungen auch in die Kette fallen und bezieht sich dabei auf den Text von Günther Löschnigg „§ 109 UG neu“ im Unilex Sonderheft 2021.
- Wir sind Martha
Name und Alter: Martha, 51
Persönliche Situation: feste Partnerschaft, Betreuungspflichten
Werdegang: Diplomstudium, Doktorat in einem MINT Fach in Österreich
Anstellungen: PraeDoc, Postdoc, Projektleiterin (Eigenfinanzierung), dazwischen viele Jahre im Ausland
Akademische Laufbahn: Seit sie wissenschaftlich denken kann, gibt es in ihrem Bereich keine Stellen an einer Universität. Sie geht ins Ausland. Sie wechselt das Fachgebiet. Hin zu einem Gebiet, das mehr Anwendungsmöglichkeiten hat und folglich mehr Möglichkeiten der Finanzierung verspricht. An einem Forschungsinstitut im Ausland beschließt sie, ihr Berufsleben auf drittmittelfinanzierter Forschung aufzubauen. An diesem Institut im Ausland ist das möglich. Dort wird ihre Arbeit sehr geschätzt.
Zurück in Österreich möchte sie auch ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergeben. Nach zwei Kurzanstellungen für Massenlehrveranstaltungen (Pflichtlehrveranstaltungen) beendet die Personalabteilung einer österreichischen Universität ihre Lehrtätigkeit mit Hinweis auf §109. Jemand anderer übernimmt, für kurze Zeit.
Mit Hilfe von ausländischen Kooperationen entwickelt sie sich (auf Drittmittelbasis) in ein Fachgebiet hinein, an dem außer ihr niemand sonst in Österreich forscht. Während sie sich die Anerkennung ihrer Scientific Community erarbeitet, wird §109 reformiert. In ihrer Umgebung ist sie nicht die einzige in ihrer Altersklasse mit einem befristeten Vertrag. Seit der UG Novelle 2021 ist ihre berufliche Zukunft extrem gefährdet. Sie empfindet die Situation als enorm belastend.
- Wir sind Dominik
Name und Alter: Dominik, 33
Persönliche Situation: stark in Wien verwurzelt, feste Partnerschaft, zwei Kinder
Werdegang: Bachelor, Master, Doktorat im MINT-Bereich an einer Wiener Uni, Habilitation in Planung
Anstellungen: Tutorenstellen, FWF-Praedoc, jetzt unbefristet an einer FH (aber neben der Lehrtätigkeit und damit verbundener Finanzierung aus der Studienplatzfinanzierung primär drittmittelfinanziert und damit trotzdem prekär)
Akademische Laufbahn: Stärkste negative Auswirkung auf Dominiks Laufbahn hatte sicher die Tatsache, dass längere Auslandsaufenthalte nicht in seine Lebensplanung passten (wegen der Kinder, starker Verwurzelung, Neurodivergenz, …). Mit der Position an einer FH hat es Dominik vorläufig halbwegs gut getroffen, weil zumindest die Kettenvertragsproblematik dort nicht besteht. Er ist aber dennoch primär drittmittelfinanziert und muss sich um seine eigene finanzielle Absicherung kümmern. Langfristig strebt er nach wie vor eine Dauerstelle an einer Universität in Wien an, da er sich an der FH nur sehr eingeschränkt der Forschung widmen kann. Dominik weiß aber auch, dass eine Rückkehr an die Universität ohne Auslandserfahrung schwierig werden wird.
- Wir sind Josef
Name und Alter: Josef, 39
Persönliche Situation: verheiratet, 2 Kinder
Werdegang: Diplomstudium BWL, Doktorat in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Habilitation
Anstellungen: PraeDoc, PostDoc (1 Jahr im Ausland), Projektleiter (Eigenfinanzierung)
Josef erfüllt alle wissenschaftlichen Qualifikationen, ist aktiv in Lehre und akademischer Selbstverwaltung engagiert. Er wirbt aufgrund seiner erfolgreichen Publikationstätigkeit selbstständig für sich und für andere Kolleg:innen Forschungsmittel ein. Danach wird er von der Personalabteilung aufmerksam gemacht, dass sein Projekt aufgrund der Kettenvertragsregel nicht kostenneutral verlängert werden darf. Nach Rücksprache mit der Leiterin der Personalabteilung wird es Josef gestattet, seinen Vertrag letztmalig zu verlängern. Dazu muss er im Vorhinein seine Kündigung unterzeichnen, danach wird sein Vertrag um ein halbes Jahr verlängert, womit Josef mit seinen Mitarbeiter:innen abschließen kann. Josef verlässt die Universität.
- Wir sind Leo
Name und Alter: Leo, 38
Persönliche Situation: kinderlos und in Wien verwurzelt
Werdegang: Masterstudium Umweltingenieurswissenschaften, Doktorat in Umweltchemie, Habilitation in Arbeit
Anstellungen: zuerst Privatwirtschaft, danach PraeDoc und PostDoc in Wien, zwischendurch sechs Monate als Gastforscher in Deutschland; zusätzliche Lehraufträge auf einer Fachhochschule
Akademische Laufbahn: Leo war zuerst als Doktorand für 20 Wochenstunden (Wh) angestellt, die er durch eingeworbene Drittmittelprojekte dauerhaft auf zumindest 30 Wh aufstocken konnte. Danach wurde Leo ein PostDoc-Vertrag für weitere sechs Jahre angeboten. Somit wäre seine Kette bereits über die 8-Jahres-Regel hinausgegangen und daher musste sich die Leitung vorzeitig für eine Entfristung entscheiden. So erhielt Leo mit sehr viel Glück bereits nach fünf Jahren seinen ersten unbefristeten Vertrag für 20 Wh aus dem Globalbudget, die er Dank Drittmittelgelder dauerhaft auf 40Wh aufstocken konnte. Aufgrund einer internen Nachbesetzung erhielt er einen 40Wh-Vertrag als Senior Scientist (aus dem Globalbudget). Nach über 9Jahren Drittmittel-Teilfinanzierung kann Leo endlich seine eingeworbenen Forschungsgelder direkt in seine eigene Arbeitsgruppe investieren.Die mangelnden Karriereperspektiven an seiner Alma Matar sind bekannt, da Leo mit Anfang 40 bereits seine letzte Gehaltsstufe erreicht und er für eine Professur höchst wahrscheinlich ins Ausland „flüchten“müsste.
- Wir sind Fiona
Name und Alter: Fiona, 41
Werdegang: Diplomstudium Sprachen, Doktorat, Habilitation
Anstellungen: Studienassistenz, PraeDoc, Postdoc,Projektleiterin (Eigenfinanzierung), dazwischen insgesamt 5 Jahre kürzere und längere Auslandsaufenthalte
Akademische Laufbahn: Der wissenschaftliche Werdegang von Fiona ist auf der einen Seite von einer großen Leidenschaft für ihr Fach geprägt und auf der anderen Seite von mehreren„Kettenvertragspausen“, sprich ihrer Bereitschaft sich zwischen befristeten Anstellungen immer wieder auch arbeitslos zu melden. Die letzte Novelle des UG 2002 im Oktober 2021 und die Inflexibilität des universitären Systems haben ein weiteres Anstellungsverhältnis über ihre selbst eingeworbenen Drittmittel an ihrer Stammuniversität jedoch verunmöglicht. Nach erfolglosen Bemühungen konnte sie mit ihrem Drittmittelprojekt an eine andere Uni wechseln, wo die 8 Jahre von neuem zu ticken beginnen. Eine volle Stelle war ihr bis dato nicht vergönnt.